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Der Kopf bleibt außen vor

Tabuthema beim Fußball: Fehlsichtigkeit

Trainerlegende Felix Magath beklagte einst den Missstand, dass der Kopf bei den etlichen Untersuchungen eines Profifußballers ausgespart bliebe. Magath ist überraschend zurück in der Fußball-Bundesliga, aber welchen Stellenwert genießt heute der Kopf und in erster Linie das optimale Sehen bei Kickern und ihren Vereinen? Ingo Rütten recherchierte.

Fußball-Spieler

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Rund 80 Prozent aller Informationen, die wir über unsere Sinne aufnehmen, werden mit den Augen wahrgenommen. Rund 95 Prozent der Bewegungs- und Feinmotorik werden über die Augen kontrolliert. Zwei Fakten, die vermutlich bekannt sind, aber immer noch und immer wieder verdeutlichen, warum exzellentes Sehen im Sport so wichtig ist.

Es ist eine wesentliche Voraussetzung für jeden, der sicher und erfolgreich Sport treiben möchte. Das gilt für Breiten- und Hobbysportler, die den Spaß in den Vordergrund stellen, wie für Profisportler, die für ihre Hochleistung ein bisschen mehr Training, Disziplin und Motivation und eben auch eine gute visuelle Wahrnehmung benötigen.

Für das gute Sehen im Sport reicht eine vernünftige Sehschärfe jedoch allein nicht aus, und selbst die ist immer noch nicht selbstverständlich. Dr. Gernot Jendrusch vom Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung an der Fakultät für Sportwissenschaft Ruhr-Universität Bochum erläutert im Interview (eyebizz 3.2022) die Details dazu und erklärt die Wichtigkeit, dynamisches von statistischem Sehen zu unterscheiden, die Augen je nach ausgeübter Sportart auf ihr Kontrast- und Farbsehen hin zu prüfen sowie die Bedeutung einer gestörten Tiefenwahrnehmung. Welchen Stellenwert sich das gute Sehen in Deutschlands Sportart Nummer eins und insbesondere im deutschen Profifußball erarbeitet hat, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Fußball-Bundesliga.

Deutscher Fußball-Bund verzichtet auf Sehtests

Borussia Mönchengladbach repräsentiert nach den Aussagen von Mannschaftsarzt Dr. Ralf Doyscher den Durchschnitt der Bundesliga, wenn es um die Bemühungen der Clubs geht, das Sehen der Profi- und Nachwuchsspieler eingehend zu prüfen und möglicherweise zu verbessern. „Es gibt sicher Vereine, die unternehmen etwas mehr in diese Richtung, der Fußball reagiert aber grundsätzlich eher zögerlich auf wissenschaftliche Strömungen“, erklärt der 38-jährige Mediziner.

Borussia Mönchengladbach Mannschaftsarzt Dr. Ralf Doyscher
Ralf Doyscher, Mannschaftsarzt bei Borussia Mönchengladbach (Bild: Borussia Mönchengladbach)

So verzichtet sogar der Deutsche Fußball-Bund immer noch auf eine Vorschrift, Fußball-Profis im Rahmen ihrer sportmedizinischen Untersuchung auf das Sehen hin zu untersuchen, so wie es bei Schiedsrichtern längst regelmäßig der Fall ist. Zudem gibt es keine Statistiken über die Verletzungshäufigkeit von schlecht sehenden Fußballern, wobei „schlecht sehend“ zudem definiert werden müsste. Schließlich liegen auch keinerlei Erkenntnisse darüber vor, ob und um wie viel Prozent die Leistungsfähigkeit eines hochbezahlten Fußballers steigt, wenn er seinen maximalen Visus erreichen würde.

Nur vom Hals an abwärts?

Fußball-Trainer Felix Magath, der vor wenigen Wochen ein überraschendes Comeback bei Hertha BSC Berlin feierte, machte schon vor Jahren auf einen seiner Meinung nach auffälligen Missstand aufmerksam: „Im deutschen Profi-Fußball wird alles vermessen, getestet, analysiert. Die Spieler werden umfassend untersucht. Aber nur vom Hals an abwärts. Der so wichtige Kopf bleibt außen vor.

Das ist heute nicht mehr so eklatant der Fall: Es wird zum Beispiel über die Folgen von Kopfbällen diskutiert, deren Abschaffung im Jugendfußball bereits angedacht wurde. Es gibt lange schon zahnärztliche Kontrollen, vor allem, weil sich eine schlechte Mundhygiene auf den ganzen Körper auswirken kann. Auch das Sehen hat in den vergangenen Jahren einen höheren Stellenwert bei Proficlubs bekommen, aber andere Dinge stehen immer noch weiter oben auf der Prioritätenliste.

Keine Zeit für Augenprüfungen

Bei einem Vereinswechsel werden die potenziellen Neuzugänge vor der Vertragsunterschrift eingehend untersucht. Laut Doyscher sieht diese sportmedizinische Untersuchung unter anderem ein EKG und einen Leistungs-Check vor. Außerdem wird ein MRT gemacht und insbesondere die Hüfte, die Lendenwirbelsäule und die Knie werden untersucht. Da bliebe für weitere Tests wie eine Augenprüfung schlicht keine Zeit, so Doyscher. Zudem findet sich ein Autorefraktometer auch eher selten in einer sportmedizinischen Praxis.

Doyscher nennt das Thema Sehen dennoch „eines von drei großen Themen“ im Profi-Fußball, die aus seiner Sicht mehr Aufmerksamkeit bekommen müssten. Ähnlich wie beim Sehen darf man annehmen, dass eine schlechte Ernährung leistungsmindernd wirkt. Und natürlich spielen Regeneration und Schlaf eine wesentliche Rolle für einen Leistungssportler.

Mit Shutterbrillen auf den Trainingsplatz

Für die nötige Erholung gibt es diverse Pläne und Abläufe im Rhythmus der anstehenden Spiele, und Ernährungsexperten gehören mittlerweile ebenso selbstverständlich zu den Funktionsteams der Bundesligavereine wie Physiotherapeuten und Torwarttrainer. Letztere haben bei Borussia Mönchengladbach auch das Sehen ins Trainingsprogramm integriert.

Borussia Mönchengladbach - Fußball Training Torwart Yann Sommer
Torwart Yann Sommer: Torhüter wie von Borussia Mönchengladbach verfügen in der Regel über ein besseres dynamisches Sehen als ihre auf dem Feld spielenden Kameraden (Bild: Borussia Mönchengladbach)

Die Torhüter müssen regelmäßig mit „Shutterbrillen“ auf den Trainingsplatz, um die Wahrnehmung „gezielt zu schulen“, wie Doyscher erklärt. „Das wird auch bereits bei uns in der Jugend gemacht.“ Für Feldspieler gibt es dieses Trainingsprogramm nicht.

Auch wenn der Trainingseffekt dieser Brillen durch Studien nicht belegt ist, ergaben Untersuchungen der Ruhr-Universität Bochum, dass bei einem speziellen Einstellmodus der Shutterbrille durchaus eine Steigerung der visuellen Beanspruchung im Training möglich ist: Okklusion ist hier das Stichwort, die teilweise Wegnahme von Informationen, zum Beispiel über den Flugweg des Balls. Ein „Trainingsreiz für adaptive Veränderungen ist zumindest denkbar, so Sportwissenschaftler Dr. Gernot Jendrusch.

Augen-Checks zu Saisonbeginn

Vieles ist also möglich, wenngleich nicht alles sinnvoll. Eine regelmäßige Prüfung in der Sommerpause durch einen Augenoptiker für alle Akteure der Profimannschaft gönnen sich die niederrheinischen Borussen dann aber doch. Im Rahmen der Saisonvorbereitung werden die Sehschärfe, das Gesichtsfeld (peripheres Sehen), das Kontrast- und Farbsehen sowie die Akkommodation überprüft.

Regelmäßig finden sich dann auch gestandene Profis, die über Kontaktlinsen nachdenken müssten, wenngleich diesbezüglich sofort der Mantel des Schweigens über die etwaige leistungsmindernde Fehlsichtigkeit des Berufsfußballers gelegt wird. Es gibt auch bekannte Ausnahmen, aber gemeinhin gilt: Makel und jegliche (körperlichen) Defizite machen sich nicht gut in der Presse und mindern neben der Beliebtheit bei den Fans vor allem den Marktwert.

Bei Rot-Grün-Sehschwäche helfen Trikots

Doyscher fragt die Profis alle sechs Monate, ob sie Sehhilfen benötigen. Er muss dabei auf die Selbstauskunft der Spieler vertrauen, um für jeden Kontaktlinsenträger neben Eisspray, Verbandszeug und Tacker, Ersatzblister und Kochsalzlösung in den Arztkoffer packen zu können. Im Trainingslager sammelt der Mannschaftsarzt die aktuellen Reservelinsen für das an jedem Spieltag eingesetzte Köfferchen ein. So einfach lässt sich bei einer wissentlichen Farbsehschwäche eines Spielers nicht agieren, aber auch eine ausgeprägte Rot-Grün-Sehschwäche bedeutet nicht zwangsläufig das Ende einer begonnenen Karriere oder der Träume eines aufstrebenden Talentes.

Sehschwächen beim Farbensehen können durch Kontrastunterschiede der Trikots begegnet werden oder indem die Stutzen des eigenen Teams mit einem Tapeband als Erkennungszeichen versehen werden. Darauf im Spiel ständig zu achten, ist vermutlich nicht leistungsfördernd, aber ob es mindernd ist, hat auch noch niemand nachgewiesen.

„Im Fußball sind besondere Qualitätsmerkmale wichtig. Ein unerkannt Fehlsichtiger wird aber sicher eher Fußballer als Biathlet“, sagt Doyscher und verweist darauf, dass mitunter ein Fehlsichtiger enttarnt werde, der zuvor sein vermeintliches Handicap offensichtlich gut kompensiert hat. Im Businessbereich des Borussia-Parks in Mönchengladbach findet sich gerahmt an der Wand das beste Beispiel für diese These.

Fehlsichtige Profifußballer auch Profis im Kompensieren

Wilfried Hannes verlor im Kindesalter aufgrund eines Tumors ein Auge, aber nicht sein fußballerisches Talent. Ohne räumliches Sehen und trotz Glasauge kam er in seiner Laufbahn auf stattliche 309 Bundesligaspiele für Borussia Mönchengladbach und Schalke 04, wurde mit Mönchengladbach zweimal Deutscher Meister, gewann einmal den Europapokal (UEFA-Cup) und lief achtmal für die deutsche Nationalmannschaft auf.

Sofort auffallen würde Hannes heute als Jugendlicher vielleicht immer noch nicht, denn regelmäßige Sehtests sind bei den jungen Talenten häufig immer noch Sache der Eltern, nicht des Vereins. Aus unterschiedlichen Gründen lernt ein fehlsichtiger Fußballer aber mit seinem Nachteil umzugehen, er kompensiert die schlechteren Reaktionszeiten, die möglicherweise schlechtere Konzentration und die schnellere Ermüdung, so wie er läuferische Defizite oder Konditionsmängel anderer Ursache auch auszugleichen versucht. Schlechtes Sehen an sich steht einer Fußball-Karriere weniger im Weg, als man denken mag.

Mannschafts-Tests bringen Sehdefizite ans Licht

Die Ruhr-Universität in Bochum hat herausgefunden, dass 40 Prozent aller Profisportler visuelle Defizite haben. Und die Initiative Vision@Sports unter der Federführung der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena hat bereits vor etwa zehn Jahren unter anderem die Profifußballer des VfB Stuttgart untersucht. Nach einem 9-stufigen Sehleistungstest bei 46 Fußballern mussten zwei Spieler mit einem Visus unter 0,63 und fünf unter 1,0 für die neue Erkenntnis des damaligen Trainers Bruno Labbadia herhalten: „Nach diesen Augenuntersuchungen bin ich überzeugt, dass jeder Fußballer einen solchen speziellen Sport- und Sehzirkel absolvieren muss.“

Auch das Team in Jena identifizierte bei den Screenings 20 bis 40 Prozent Fehlsichtige unter den Profisportlern mit zum Teil erheblichem Korrektur- oder Optimierungsbedarf. Eine bessere Koordination des Bewegungsapparates und eine Herabsetzung der Verletzungsgefahr in Folge einer besseren Sehleistung sind nicht nur für den jeweiligen Sportler Anreize, an der gegenwärtigen Situation etwas zu ändern. Die Blickmotorik spielt eine herausragende Rolle beim Sport, und auch für eine gute und nicht minder wichtige Antizipation eines Fußballers ist gutes Sehen von immenser Bedeutung. Gründe genug, dass sich Vereine und die dort zuständigen Verantwortlichen des Themas endlich mehr annehmen. Davon profitieren schließlich nicht nur die Spieler, sondern auch die Zuschauer im Stadion, die sich an außergewöhnlichen Leistungen ihrer Lieblings-Kicker erfreuen wollen.

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Ingo Rütten war nach seiner Zeit als Augenoptikermeister knapp zehn Jahre lang stellvertretender Pressesprecher von Borussia Mönchengladbach und empfahl dem damaligen Trainer die regelmäßige Augenprüfung durch einen ortsansässigen Augenoptiker – der ist auch heute noch mit dieser Aufgabe betreut.

 

Artikel aus der eyebizz 3.2022 (April/Mai)

 

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