Hat „Made in Germany“ verloren? Oder ist das nur ein Sturm im Wasserglas? Die Geschäftsführer von Brillenglas-Hersteller Wetzlich Optik-Präszision, Thorsten Wagemann und Florian Gisch, können es an manchen Tagen nachvollziehen, dass sich „nahezu alle großen Hersteller schrittweise aus der Produktion in Deutschland zurückziehen“.
Vor rund zehn Jahren haben wir im Rahmen eines Management-Buy-outs die Leitung der Wetzlich Optik-Präzision GmbH übernommen. Unsere Vision war klar: Innovative Brillengläser zu einem fairen Preis – Made in Germany.
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Wir haben seitdem erhebliche Investitionen in unsere Produktion am Standort Deutschland getätigt und zusätzlich ein Qualitätsmanagementsystem nach DIN EN ISO 9001 und 13485 eingeführt, um Qualität und Konformität transparent und nachvollziehbar zu dokumentieren.
Heute ziehen sich nahezu alle großen Hersteller schrittweise aus der Produktion in Deutschland zurück. Der erste mediale Aufschrei nach der Ankündigung Rodenstocks, die Produktion nach Klatovy (eingedeutscht Klattau) zu verlegen, wurde beschwichtigt – unter anderem durch Einladungen zu Werksführungen. Andere Marktteilnehmer vollziehen diesen Schritt noch geräuschloser.
An manchen Tagen können wir diese Entscheidungen nachvollziehen. Denn „Made in Germany“ hat – besonders in unserer Branche – längst nicht mehr den Stellenwert, den es verdient. Die politischen Rahmenbedingungen der letzten Jahre, insbesondere nach der Corona-Pandemie, wirken wie Gift für den industriellen Mittelstand. Es klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Was bedeutet heute noch „Made in Germany“? Zwischen Arbeitskräftemangel, explodierenden Lohnnebenkosten und massiv gestiegenen Energiepreisen entsteht der Eindruck, Unternehmen würden durch Regulierungen, Dokumentations-Pflichten und Berichtsauflagen zunehmend von ihrer eigentlichen Aufgabe abgehalten: wirtschaftlich zu produzieren.
„Wo früher Motivation und Leistungsbereitschaft selbstverständlich waren, erleben wir heute zunehmend eine Mentalität des Rückzugs in Komfortzonen.“
Zudem hat sich das Arbeitsverständnis im Land stark gewandelt. Wo früher Motivation und Leistungsbereitschaft selbstverständlich waren, erleben wir heute zunehmend eine Mentalität des Rückzugs in Komfortzonen. Arbeit wird von Teilen der Bevölkerung als notwendiges Übel betrachtet – optional ersetzbar durch das Bürgergeld. Insbesondere in den Wintermonaten schlagen hohe Krankenstände nicht nur bei uns massiv auf die Produktionsfähigkeit durch. Ganz Deutschland fiel Anfang 2025 erneut durch überdurchschnittliche Fehlzeiten auf – ein ernstes Problem für produzierende Betriebe.
Natürlich liegt es nahe, zu fordern, einfach „mehr Personal vorzuhalten“. Doch in der Realität ist es schwierig, Menschen für Produktionsberufe zu gewinnen – besonders im Schichtbetrieb und an Wochenenden. Die Arbeit gilt als unattraktiv. Gleichzeitig erwarten wir jedoch von unseren asiatischen Zulieferern einen 24/7-Betrieb, 365 Tage im Jahr, ganz ohne soziale Sicherungssysteme. Dann klappt es auch jederzeit mit den Lieferzeiten … Eine Doppelmoral, die in vielen Diskussionen übersehen wird.
Hier kommt der Markt ins Spiel: Made in Germany und Nachhaltigkeit werden in der Außendarstellung gerne gefordert – aber bitte ohne Aufpreis. Die Realität? Der Preis aus Asien wird zum Maßstab. Mindestlohn, Umweltauflagen, Produktions-Bedingungen – plötzlich zweitrangig. In Deutschland ist eine 7-Tage-Produktion kaum realisierbar, während ausländische Standorte damit punkten.
Ein eindrückliches Beispiel: Ein Filialist mit nahezu 100 Standorten äußerte beim gemeinsamen Abendessen stolz, er beziehe seine Ware ausschließlich aus Asien – europäische Lieferketten seien für ihn komplett irrelevant. Ein echter „Fuchs“?
Ernüchternd ist auch, wie wenige Akteure sich mit den Anforderungen des Medizinproduktegesetzes auseinandergesetzt haben. Wir haben einen sechsstelligen Betrag investiert, um unseren Kunden ein rechtssicheres und konformes Medizinprodukt zu garantieren. Gleichzeitig beobachten wir, wie viele Anbieter asiatischer Produkte ohne jede Zulassung den Markt fluten – ohne Konsequenzen. In Nordrhein-Westfalen kümmern sich aktuell ganze zwei Beamte branchenübergreifend um die Kontrolle des MPG. Gesetze verlieren ihre Wirkung, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird.
Vor diesem Hintergrund können wir wirtschaftlich nachvollziehen, warum viele Unternehmen der deutschen Produktion den Rücken kehren. Wenn der Markt selbst keinen höheren Anspruch formuliert – warum sollte es der Hersteller tun?
Doch es gibt auch eine andere Perspektive: Wenn alle Hersteller abwandern, verschwinden auch die Markenunterschiede. Am Ende bleibt nur noch der Preis – und irgendwann wird der Handel selbst obsolet. Die Modebranche ist ein warnendes Beispiel: Marken verschwinden, Handelskanäle brechen weg. Was hindert asiatische Anbieter daran, ein „SHEIN“ oder „TEMU“ der Augenoptik zu etablieren, wenn ohnehin alle das Gleiche verkaufen?
Made in Germany: Weit mehr als ein Etikett
Für uns bedeutet Made in Germany weit mehr als ein Etikett. Es bedeutet, Menschen in Deutschland zu beschäftigen, Teil eines lokalen Ökosystems aus Handwerk, Lieferanten, Dienstleistern und Kunden zu sein. Billige Importe nützen nichts, wenn die Kaufkraft der Bevölkerung durch Arbeitslosigkeit schwindet – und der Umverteilungs-Mechanismus nicht mehr trägt, weil das Steueraufkommen fehlt.
Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Auslagerung der industriellen Wertschöpfung ein schleichender Selbstmord. Mit Dienstleistungen allein werden wir unseren Wohlstand nicht sichern können. Selbst die USA, die diesen Weg lange beschritten haben, bemühen sich nun massiv, ihre Industrie zurückzuholen. Im Gegensatz zu uns haben diese jedoch eine Unzahl an HighTech-Firmen in einem Wachstumsumfeld und können auf umfangreiche Rohstoff-Vorkommen zurückgreifen.
Trotz aller Herausforderungen sehen wir als deutscher Brillenglas-Hersteller weiterhin gute Marktchancen – und bekennen uns klar zum Standort. Ob man das Patriotismus nennt oder schlicht den Willen, nicht zum Abstieg dieses Landes beizutragen – wir stehen zu unserer Verantwortung. Letztlich sitzen wir alle in einem Boot. Innovation ist unser Antrieb, Herausforderungen nehmen wir an. Und jede Krise birgt neue Chancen. ///