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Retro oder Vintage

Mit Herzblut

Retro ist ein Hype – nicht nur in der Augenoptik, sondern auch bei Möbeln und Textilien. Ein Gespräch der eyebizz mit Experten beleuchtet, was diesen Trend ausmacht: Diplom-Psychologin Dr. Susanne Altweger, Designerin Claire Goldsmith, zwei Hersteller – die Geschäftsführerin von Cazal, Beate Obersteiner, und Reinhold Braun von Braun Classics –, sowie Brillensammler Christian Metzler und Ilka Klein, Inhaberin der „Brillen Gallery“ in Düsseldorf-Oberkassel. Alle sind überzeugt: In Retro steckt Herzblut.

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Brillensammlung von Christian Metzler

eyebizz: Sind Menschen, die sich heute für Retro begeistern, von gestern?

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Ilka Klein: Nein. Die Zielgruppe für Retroformen geht durch alle Altersgruppen. Aber es sind Menschen, die das Besondere lieben. Retro ist für mich wie Punk ein Stil. Viele Leute fassen den Begriff sehr weit.

Reinhold Braun: Retro-Marken bestechen durch ihre Einfachheit: Das Produkt scheint mir vertraut, auch ohne weitere Erklärungen. Eine Vintage- oder Retro-Fassung, die man aus unserem schönen Papier-Etui nimmt, in der Hand hält, als Sehhilfe oder auch nur aus modischen Gründen trägt, gibt einem das Gefühl von Harmonie und Vertrautem. Retro bedeutet eben auch, nicht jedem Trend hinterherzurennen, sondern an das Zeitlose zu glauben.

eyebizz: Inwiefern befruchten sich Tradition und Moderne?

Dr. Susanne Altweger: Psychologisch gesehen spielen viele Faktoren mit. Die Sehnsucht nach Gestern steckt in uns allen, denn das Gestern bedeutet Jugend oder die magische Zeit der Kindheit.

Beate Obersteiner: „Alles ist schon im Augenblick seines Erscheinens ein Zitat.“ Das sind oft bemühte Worte des italienischen Schriftstellers Roberto Calasso. Bei einer Marke wie Cazal, die es seit den 70er Jahren gibt und über 40 Jahre lang das Brillendesign maßgeblich mitgestaltet hat, ist jedes neue Modell eine logische Weiterentwicklung der vorangegangenen Kreationen. Nur so lässt sich überhaupt eine unverwechselbare Markentypik entwickeln. Die bewusste Kombination aus bewährter Tradition mit modernen Aspekten – technischer und stilistischer Art – war immer unser Erfolgsgeheimnis.

eyebizz: Steckt in der Retro-Welle auch Kulturkritik?

Obersteiner: Bei Cazal ganz sicher nicht. Aber man weiß, dass die immer wiederkehrenden Retro-Wellen auch eine oft sehr konstruktive Kritik an der Moderne bedeuten. Rückwärts orientierte Mode bei der Brille bedeutet bei Cazal nicht, dass wir innovatives Brillendesign kritisieren. Vielmehr schätzen wir unsere eigene Historie sehr und betrachten Retro nicht als modischen Trend, sondern als klare Markenstrategie vor allem in unserer Sonnenbrillenwelt.

Altweger: Zumindest was die Mode betrifft, würde ich die Frage mit ja beantworten. Ausstellungen über Audrey Hepburn, Grace Kelly, Jackie Kennedy oder andere Stilikonen erfreuen sich großer Beliebtheit: Sehnsucht nach Eleganz in Zeiten zerrissener Fetzen-Jeans.

eyebizz: Christian, Du sammelst alte Fassungen, Originale. Wann hat Dich die Sammelleidenschaft gepackt?

Christian Metzler: Inzwischen sind es 13 Jahre. Bei mir geht es nicht um Retro, sondern um Vintage-Fassungen, die alten Originale aufzustöbern und die dazugehörige Jagd machen es für mich zum Abenteuer.

eyebizz: Was ist Retro, was nachgemacht und was neu interpretiert?

Metzler: Vintage bedeutet, dass das Gestell tatsächlich original aus einer vergangenen Zeit stammt, während eine Retrobrille einfach nur alt scheint, aber neu hergestellt wurde.

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Aus der Sammlung von Christian Metzler

Claire Goldsmith: Es ist tatsächlich so, dass man heute den Eindruck bekommt, alles ist schon einmal dagewesen. Allerdings werden vermeintlich alte Ideen von uns heute ganz neu interpretiert.

Obersteiner: Bei Cazal ist der ästhetische Rückgriff auf die Formensprache vergangener Jahrzehnte Programm. Wir knüpfen an Traditionen an und setzen sie fort. Wenn man so will, ist die Wiederauflage unserer Modelle aus den 80er-Jahren dem Phänomen Retro geschuldet. Es waren die weltweiten Fans, die uns diese Entscheidung nahegelegt haben. Sie wollten die Klassiker des Brillendesigns wieder auf dem Markt sehen. Zu diesen 1:1-Relaunches haben sich einige Modelle gesellt, die im Stil der 80er-Jahre neu entwickelt wurden, um die Palette zu erweitern. Diese neu interpretierten Klassiker sind für unsere Fans anhand der Modellnummer eindeutig erkennbar. Wir unterscheiden hier klar zwischen Original und Neuinterpretation.

Braun: Genau genommen wäre eine echte Vintagebrille beispielsweise natürlich nur eine original Ray-Ban von 1952. Für mich ist trotzdem auch die Neuinterpretation einer der alten Fassungen aus meiner Brillensammlung Retro. Es geht ja vor allem darum, die Schönheit der alten Fassung ins Heute zu übersetzen und dabei trotzdem die technischen Innovationen bei Material und Verarbeitung, die wir mittlerweile haben, zu nutzen.

eyebizz: Was fasziniert Sie selbst an Retro?

Klein: Retro- oder Vintage-Fassungen sind Modelle, die ich mit Herzblut verkaufe. Dazu gehören für mich bestimmte Formen wie etwa Panto, spezielle Materialien wie Horn oder ein Acetat-Überzug. Mit Retro verbinde ich ursprüngliches Handwerk, wie ich es persönlich auch gelernt habe: Fräsen, Sägen, Feilen, Bohren, Schmirgeln, Polieren. Zeitlich würde ich den Begriff nicht eingrenzen.

Algha Savile Row Eyewear zählt für mich zu den typischen Retro-Herstellern, ein Pionier klassischen Brillendesigns und Meister der Handwerkskunst. Seit den 30er-Jahren werden in der britischen Manufaktur „The Algha Work” Rohmodelle aus einem Kupfer-Gold-Mix gefertigt und zu Brillen verarbeitet. Der Tragekomfort ist einzigartig. Alles, was Rang und Namen hat, trug oder trägt solche Brillen: von John Lennon über Twiggy, Michael Douglas bis zu „Harry Potter“.

Es gibt viele Kollegen, deren Angebot leicht austauschbar ist. Ich verzichte ganz bewusst auf Ray- Ban oder Police und damit auch auf eine bestimmte Kundenklientel. Ich besetze eine Nische.

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Modell Groc von Oliver Goldsmith

Obersteiner: Für mich ist Retro ein ästhetischer Aspekt, der in allen Epochen seinen Platz hatte und hat. Heute sprechen wir von Retro, früher wurde der Rückgriff auf Konzepte und Stile vergangener Epochen als Historizismus, Nostalgie, Eklektizismus oder als ironisches Zitat bezeichnet. Ich bin kein schnelllebiger Mensch, sondern schätze Klassiker. Moderne einfach nur um der Moderne willen – warum? In meiner Familie gibt es ein sehr altes Auto, Stuhl-Klassiker aus der Vergangenheit, einen alten Teppich aus dem Orient, zwei sehr alte Schränke – und das alles in einem sehr modernen neuen Haus.

Goldsmith: Ich glaube, dass wir heute vor allem die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg als Retro bezeichnen. Nach dieser entbehrungsreichen Zeit freuten sich die Menschen, wieder Hoffnung haben zu dürfen. Es gab neue technologische Entwicklungen, die 50er- bis 70er-Jahre waren ausgesprochen kreativ. Es gab maßgebliche Designströmungen, die heute noch relevant sind: in der Architektur, bei den Möbeln, den Autos – oder wie in unserem Fall bei den Brillenfassungen.

Ich liebe nichts mehr, als eBay nach alten Möbelstücken zu durchforsten. Sie bringen einen Stilbruch in meine ansonsten neu eingerichtete Wohnung. Und natürlich habe ich die größte Oliver-Goldsmith-Sammlung der Welt (lacht), etwa 4.000 Stück.

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Die “Space Visitors” von Oliver Goldsmith

Braun: Ich habe ganz am Anfang meiner Karriere im Brillenbusiness, also vor 40 Jahren, meine Sammelleidenschaft für alte Fassungen entdeckt: Lorgnons, Zwicker, Horn- und Bakelitfassungen, die ersten “Schubertbrillen”… Mich fasziniert die unglaubliche handwerkliche Geschicklichkeit der Brillenmacher von früher, die große Liebe zum Detail und die Tatsache, dass alle alten Fassungen, die ich heute in meiner Sammlung habe, noch voll funktionsfähig und dabei formschön, eben zeitlos sind. Unsere Kollektion übersetzt seit nunmehr 25 Jahren genau dieses Kunsthandwerk ins Heute und nimmt die historische Formensprache auf.

Altweger: Ich sammle vor allem Fotobände über Stilikonen wie Audrey Hepburn, Grace Kelly, Jackie Kennedy. Außerdem liebe ich Objekte aus der Zeit des Jugendstils und Art Déco. Die 50er hingegen sind mir verhasst, sie erinnern mich an meine etwas ärmliche Kindheit. Einzelne Retro-Teile aus den 70ern habe ich verwahrt, so zum Beispiel diverse Schmetterlingsbrillen oder mit Strass besetzte „Dame Edna“-Brillen. Das sind coole Statement-Teile.

eyebizz: Welches ist zurzeit Ihr Lieblingsmodell?

Klein: Panto-Formen finde ich grundsätzlich toll.

Obersteiner: Die Cazal 607 ist mein Lieblingsstück. Ich habe jahrelang mit unserem Mentor und Chefdesigner Cari Zalloni zusammengearbeitet und weiß, wie wichtig ihm dieses Modell war. Das hat sich auf mich übertragen.

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Cazal-Modell 607

Goldsmith: Ich mag die Fassungen aus den 60er-Jahren. Die GROC, die man egal wie rum aufsetzen kann, oder die „Space Visitors“, die so irre ironisch sind. Ich mag auch die „Fun-Glasses“, denn was wir tun und produzieren, macht Spaß! Daran sollte man sich zwischendurch erinnern.

Metzler: Zurzeit beschäftige ich mich sehr mit Gaultier- und Cartier-Fassungen aus den 90er- Jahren. Aber meine Lieblingsfassung ist meine Alpina Goldwing.

eyebizz: Danke für das Interview, wir sehen uns auf der opti, wo “Vintage Passion” ja auch eines der Messethemen ist!

CH


Die Gesprächsrunde

 

 

EB 2017-01_Dr_Susanne_AltwegerDr. Susanne Altweger

Diplom-Psychologin und Business-Coach

Geboren in: Innsbruck

Wohnhaft in: Neuss

Persönliches Retro-Lieblingsstück: Eine Spitzenstola, die Kaiserin Sisi gehörte

Früher … „war alles romantischer.“

Zukunft … „ist immer spannend.“

 

 

EB 2017-01_Reinhold_BraunReinhold Braun

Firma: Braun Classics, München

Gegründet: 1992, 25-jähriges Firmenjubiläum 2017

Alter: Vintage

Geboren und wohnhaft in: München

Mode ist für mich … „guter Stil sowohl im Umgang als auch im Aussehen.“

Die Zukunft beginnt … „morgen, heute ist das Leben, die Vergangenheit gibt uns die Erfahrung, die beiden anderen voll und ganz zu genießen.“

 

EB 2017-01_Claire_GoldsmithClaire Goldsmith

Urenkelin von Oliver Goldsmith, der schon 1926 im Auftrag einer Fassungsfirma durch England reiste. Das Unternehmen wurde 1926 gegründet. Königliche Hoheiten, Modedesigner und das Showbusiness trugen Fassungen der Kollektionen. „OG“ existiert in der vierten Generation. Claire designt heute ihre eigenen Kollektionen, die sich teilweise auf die Entwürfe des Großvaters beziehen.

 

 

 

EB 2017-01_Ilka_KleinIlka Klein

Augenoptikermeisterin aus Düsseldorf, Inhaberin der „Brillen Gallery“ in Düsseldorf Oberkassel, Optometristin.

 

 

 

 

 

 

EB 2017-01_Christian_MetzlerChristian Metzler

Fotograf und Brillensammler

Geboren und wohnhaft in: Pforzheim

Was ist an Dir selbst vintage? „Anscheinend mein Geschmack.“

Deine Lieblings-Vintage-Fassung? „Immer die Fassung, die ich finde und noch nicht in der Sammlung habe.“

Geschichte ist für mich … „Teil meiner Zukunft.“

Für die Zukunft wünsche ich mir persönlich … „alle Brillen, die ich noch nicht habe.“

 

EB 2017-01_Beate_ObersteinerBeate Obersteiner

CAZAL-Geschäftsführerin, op Couture Brillen GmbH, Passau.

 

 

 

 

 

 

 

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