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Lehrer Jan Dominiczak: „Keiner hört richtig zu“

Kinder und Lese-Rechtschreib-Schwäche in der Schule

Gut Lesen und richtig Schreiben können in der Schule hat bei weitem nicht nur mit Intelligenz und Fleiß der Kinder zu tun. Dieser Meinung jedenfalls ist Jan Dominiczak. Er ist Lehrer und mittlerweile gefragter Experte für Zusammenhänge zwischen Schreib-, Lern- und visuellen Defiziten. Sein Standpunkt zur Lese-Rechtschreib-Schwäche ist aber auch umstritten.

Kind beim Lesen
Bild: Pixabay

Herr Dominiczak, Sie befassen sich schon seit mehr als 26 Jahren mit Sehdefiziten im Zusammenhang mit Rechtschreibe-Schwierigkeiten von Schülern. Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen?

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Jeder Lehrer ist zwangsläufig mit diesen Phänomenen konfrontiert. Sie unterrichten ihre Schüler, der eine holt sich beim Diktat seine Eins ab, andere eine Note aus dem Rest der Skala. Dabei sind die anderen nicht dumm oder faul. Über 25 Jahre habe ich erlebt, dass viele meiner Schüler systematisch bei denselben Wörtern dieselben Fehler machten. Viele verwechseln das „n“ mit dem „m“ oder „nn“, weil es ähnlich aussieht, oder das „d“ mit dem „t“, weil es am Wortende ähnlich klingt.

Meine Beobachtung an drei Schulformen – in Haupt-, Realschule oder Gymnasium – war, dass jeweils rund ein Drittel der Kinder eine flüssige Schrift hatte, ein Drittel eine mäßig gute und ein Drittel schrieb krakelig oder unleserlich. Dabei korrelierte das krakelige Schriftbild nicht immer mit einer hohen Fehlerzahl bei der Rechtschreibung. Diese orientierte sich jedoch häufig an den auditiven Wortbildern.

1992 brachten mich Zwillinge auf die Idee, dass diese Drittelung sehphysiologische Hintergründe haben könnte. Beide Mädchen fanden aufgrund ihres, für sie selbst schwer erkennbaren Lernfortschritts keinen wirklichen Spaß an der Schule. Eines der Mädels erzählte, sie müsse, wenn sie heimkäme, immer erst nach dem Klingelknopf ‚daschte‘. Das ist Schwäbisch und meint Ertasten. Was lag näher, als dass sie vielleicht nicht gut sieht?

Jan Dominiczak: LRS - ohne und mit Korrektion
Schreibleistung ohne . . .  und mit vollständiger Korrektion.

Auf mein Anraten hin brachte die Mutter beide Kinder zum Sehtest. Ein Augenoptiker stellte dabei fest, dass beide tatsächlich augenoptisch auszugleichende Sehschwierigkeiten hatten. Eines der Mädchen war kurz-, das andere weitsichtig, beide jedoch einschließlich einer sogenannten Winkelfehlsichtigkeit. Nachdem beide eine entsprechende Brille trugen, wurden sie innerhalb kurzer Zeit die besten Leserinnen der Klasse! Davor hatte ich noch nie von Winkelfehlsichtigkeit gehört.

Wen sollte diese große Veränderung nicht neugierig machen? Ich war nicht mehr nur der Verwalter von guten und schlechten Noten, sondern sah neue Möglichkeiten, den Lehr- und Lernerfolg auf vorteilhafte Weise zu verändern.

In den 90er Jahren, sagten Sie gerade, war es ungefähr ein Drittel der Schulkinder, die pro Klasse betroffen waren. Wie hoch ist der Anteil heute?

Die digitalen Medien sind auch Teil der Welt von Schülern. Die Zahl derer steigt, denen es zum Beispiel nicht gelingt, trotz großer Entschlossenheit auf einer Linie zu schreiben, Zeilenanfänge oder das Zeilenende einzuhalten. Die ausdauernde Konzentration, wie sie schon immer zum Schreiben einer flüssigen Schreibschrift aufgebracht werden musste, scheint abgenommen zu haben.

Jan Dominiczak: LRS - Bildlagefehler haben Auswirkungen
Bildlagefehler beim Sehen haben Auswirkungen beim Schreiben.

Doch das Problem ist grundsätzlicher: Etwa 80 Prozent der Kinder bis zwölf Jahre sind schon allein aufgrund ihres Wachstums weitsichtig. Mediziner gehen davon aus, dass ein Kind locker vier oder fünf Dioptrien plus und mehr kompensieren kann. Ein fataler Irrtum! Von „entwicklungsbedingter Weitsichtigkeit“ wird dann gesprochen. Als wenn dies Normalität wäre. Die meisten Augenoptiker schließen sich diesen Einschätzungen an und verweisen darauf, dass sie angeblich keine Kinder refraktionieren dürften, was ja so nicht stimmt.

Die Erfahrungen der Schüler und die Ansichten einiger Fachleute scheinen sich aufs Heftigste zu widersprechen. Als 2005 bei einem Hearing im Kultusministerium in Stuttgart derartige Belege eingefordert wurden, hüllte sich eine ganze Gruppe namhafter Kritiker in Schweigen.

Sie verfolgen in diesem Feld Ihre eigenen Forschungen. Welche Fortschritte gibt es dabei?

Mit der Verkürzung auf die Sichtverhältnisse als alleiniger Ursache von mangelndem Lernerfolg wäre mein Thema gänzlich verfehlt. Eltern konsultieren Fachleute zur auditiven Wahrnehmung und die ganze Bandbreite der Pädiatrie, leider oft ergebnislos. Diese Wege sind meist bis zur letzten Hoffnung abgearbeitet, bevor eine besonders präzise gemessene und angefertigte Brille nach eingehender optometrischer Untersuchung den Kindern gegeben wird, nicht zuletzt, weil die Versicherungen hier keine Kosten übernehmen. So greifen Eltern eher zu Medikamenten für ihre Kinder, denn diese Kosten übernehmen die Krankenkassen.

Bei meinen zahlreichen Kontakten mit Fachleuten aller Couleur galt allermeist der augenoptische Aspekt von Wahrnehmungsdefiziten im Zuge der augengesundheitlichen Untersuchungen als vollständig geklärt. Viele machen bei der Aufarbeitung der unzureichenden Lernerfolge von Schülern eine besonders wichtige Arbeit, doch oft ohne den durchgreifenden Erfolg, der in einem motivierenden Maß zum Aufwand der Kinder und Eltern steht.

Dahinter stehen eben nicht nur Lehrdefizite des Schulbetriebs, Mangel an Intelligenz und Fleiß, wie bisweilen unterstellt wird, sondern eben auch die visuellen Defizite. Diese werden zwar als solche entdeckt, bleiben allerdings meist un- oder nur teilweise gelöst. Die allesamt mit Brillengläsern auszugleichenden Defizite sollten Teil des Standards sein.

Es gibt inzwischen durchaus Fortschritte. Immer mehr Eltern erleben Korrektionserfolge und multiplizieren ihre Erfahrungen. Es finden Kongresse zum Thema statt, bei Augenoptikern, mit Medizinern, auch bei den Orthopäden. Sie stellen zum Beispiel Zusammenhänge zwischen schlechter Rechtschreibung und Körperhaltung fest.

Jan Dominiczak: LRS - Nur ein Auge führt den Stift
Das Kind hat Fusionsprobleme und beugt sich daher beim Schreiben tief und nahe ans Blatt, um so ein Auge auszuschalten. Das erschwert eine richtige, sichere und automatisierte Wortspeicherung. Solche Zwangshaltungen führen oft zu Haltungsschäden.

Man kann hinten in einer Klasse sitzend schon vermuten, wer ein Sehproblem hat. Ich betone: vermuten. Ich bin kein Orthopäde, kein Augenoptiker, sondern Pädagoge. Ich bin nur ein Bindeglied mit meiner empirischen Forschung. Manchmal habe ich das Gefühl, dass niemand so richtig hinhören will. Händigkeit ist stark abhängig von der Äugigkeit. Wer rechtsdominant beim Sehen ist und Linkshänder, hat Nachteile beim Schreiben lernen.

Was mir wichtig ist: Für das Thema gutes Sehen sollte möglichst frühzeitig, also schon im Kindergarten, sensibilisiert werden. Hier zeigt sich schon bei der Handhabung von Scheren oder beim Balancieren, wo Schwachstellen liegen.

Dazu haben Sie Methoden entwickelt, die zur Überprüfung von Sehdefiziten dienen. Können Sie ein Beispiel dazu nennen?

Erlauben Sie mir den emotional unerfreulichen Begriff Sehschwäche durch „Schwierigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung“ zu ersetzen.

Mittels unserer Nachfahrbögen sollen Kinder beispielsweise vorgegebene Punkte mit Stiften in Wellenlinien umfahren und so zum Ziel zu gelangen. Eine Art Slalom. Die Ergebnisse zeigen visuelle Defizite und Konzentrationsprobleme auf und korrelieren mit den schriftlichen Leistungen der Schüler. In Schweden wenden Lehrer unsere Nachfahrbögen bereits seit mehreren Jahren an, um die Sehdefizite ihrer Schüler zu erkennen und um dann die Eltern auf diese Ursache von Lernproblemen hinweisen zu können.

Jan Dominiczak: Lese-Rechtschreib-Schwäche - Nachfahrbogen zeigen Korrelation mit Schrift
Die Bearbeitung eines Nachfahrbogens korreliert mit der späterer Schrift.

Wenn wir auch vieles in diesem Gespräch nur angedeutet haben, kann es ein Impuls sein, sich mit der Materie weiter auseinanderzusetzen. Vielen Dank, Herr Dominiczak!

//CH

ID 5838

 

Die Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) oder Legasthenie (von lateinisch legere ‚lesen‘ und altgriechisch σθένειαasthéneia, deutsch ‚Schwäche‘, also ‚Leseschwäche‘), auch Lese-Rechtschreib-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten oder abgekürzt LRS genannt, ist die massive und lang andauernde Störung des Erwerbs der Schriftsprache (geschriebene Sprache).

 

Jan Dominiczak, 66, aus Maulbronn (Baden-Württemberg), war Lehrer an Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen. Seit 1985 vergleicht und archiviert er Schriftproben von Schülern gemeinsam mit seiner Frau Eva, die ebenfalls Lehrerin ist, und kämpft für einen anderen Umgang mit Lernschwierigkeiten. Sein Ziel: „Der umfassende Ausgleich aller augenoptischen Abweichungen bei Kindern als Grundlage für erfolgreiches Lernen.“

 

Kommentare zu diesem Artikel

  1. moin, moin, nirgends wird soviel Unsinn erzählt als bei den Prismen. Ein völlig normales physikalisches Hilfsmittel. Fachschulen lehren leider kaum noch sinnvolles Inhalte und nur 3 bis 5 % der Optiker können präzise Prismen messen und in Brillen einbauen.

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  2. Liebe Frau Höckmann, – was für ein tolles Interview!! Ich bin begeistert….. Viele Jahre kenne ich nun schon Herrn Dominiczak, bewundere seine Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit, UNS Augenoptikern zu spiegeln: „IHR seid es, die helfen können – MACHT es ENDLICH!!“

    Seit Jahren und nun schon Jahrzehnten sind es immer wieder DIESELBEN Ressentiments, die geäußert werden, die ganz offensichtlich vom HANDELN (im Sinne eines Herrn Dominiczai, im Sinne der Betroffenen und deren Angehörigen) abhalten. Da es immer DIESELBEN „Argumente“ sind, die GEGEN Prismenbrillen geäußert werden, habe ich sie alle gesammelt und alle samt und sonders ad absurdum geführt:

    In Youtube gibt es ja eine „Suchleiste“ – ganz oben. Wer dort eingibt: „Prismenbrille Pro und Kontra“ gelangt zu DIESEM Film:

    https://youtu.be/pMnk49uNW6Y

    Es ist keine 4 Wochen her, daß mir eine Mutter eines winkelfehlsichtigen Kindes berichtete, ein Optiker (!!) aus dem Emsland („der sich auch mit Prismen auskennt“) habe sie gewarnt, – „wer erstmal mit Prismen anfängt, braucht dann immer stärkere, bis schließlich die Augen sogar operiert werden müssen!“. Unfaßbare fake news!

    Was als Zweites zur Verunsicherung der Augenoptiker beigetragen hat, war die Veröffentlichung auf http://www.augeninfo.de vom 13.11.2013 mit dem Titel: „Das Phantom der Winkelfehlsichtigkeit: Prismenbrillen können das Zusammenspiel der Augen stören“ von Frau Dr. Dietlind Friedrich.

    Die Richtigstellung und Widerlegung sämtlicher dort geäußerter „Argumente“ lesen Sie hier:
    http://www.deraugenoptiker.de/index.php/glossar/phantom-winkelfehlsichtigkeit.html

    DAS hat mich seinerzeit dazu veranlaßt, auf „Phantomjagd“ zu gehen und hier habe ich es erlegt:

    https://www.youtube.com/watch?v=ejW4RX6XooM&list=PL4BTKWy7jvhmbm4rCN97h9lcrw_40l0ea

    Wer das nicht alles abtippen will, gibt einfach bei der „Suchleiste“ in youtube ein: „Phantom Prismenbrille“.

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  3. 1. DANKE, lieber Herr Dominiczak, liebe Frau Dominiczak, daß Sie soooooooooooooo lange DIE Arbeit tun, die eigentlich die Aufgabe von AUGEN-Optikern ist.
    2. Die URSACHEN und GRÜNDE, warum Augenoptiker/Optiker es so wenig tun: Lesen Sie die häufigsten Ausreden…..
    3. “Ja klar, aber Kinder DÜRFEN ja gar nicht mit Brillen versorgt werden OHNE Augenarzt, bis sie mindestens 14 Jahre alt sind.” (Das dachte man früher, das GLAUBTE man sogar Jahrzehnte lang: Es IST aber de facto “fake news”)
    4. “Kinder sind viel zu anstrengend, aufgeregt, “nervig”, – das GEHT bei denen gar nicht”! (Wer so denkt, sollte mal ein Seminar bei Jan Dominiczak buchen oder bei Michael Hornig – die beiden glauben, sehen und erleben das nämlich GAAANZ anders…)
    5. “Ja, aber der Augenarzt , von dessen Patienten ich viele mit Brillen versorge, der lehnt Prismen doch ab… Wenn DER das mitkriegt, daß ich “Prismenbrillen” mache, geht’s mir aber SCHLECHT!” Lesen Sie die schriftliche Widerlegung ALLER Vorurteile, die seit 50 Jahren geäußert wurden:
    https://youtu.be/pMnk49uNW6Y
    6. “Aber haben Sie denn gar nicht die hoch-offizielle WARNUNG vor “Prismenbrillen” gelesen, – daß “Winkelfehlsichtigkeit = ein Phantom” ist? HIER die Antwort: Bei youtube in die Suchleiste tippen: “Phantom Prismenbrille”!
    7. Wie, wo, was – Prismenbrillen können HELFEN?!? UND OB:
    https://www.youtube.com/watch?v=3T9IpJYTaUw&list=PL4BTKWy7jvhnPOr8FXS2Lt4uwgC9d-mUs
    8. Viele Grüße aus Ostfriesland! DerAugenoptiker.de

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