Rodenstock: Entwicklung bei Brillengläsern nie abgeschlossen
von Ingo Rütten,
Der Aufschrei war noch nicht verhallt auf die Ankündigung, dass Rodenstock seine Produktion im bayerischen Regen eine gute Autostunde weiter nördlich nach Tschechien auslagert. Und von demselben Schicksal der Rodenstock-Tochter Optovision (siehe Story in diesem Extra) wussten die Fachbesucher der opti Ende Januar auch noch nichts, wenngleich der eine oder andere gewiss schon eine Ahnung hegte. Letztlich zeigte der nach außen hin unbeschwerte Messeauftritt: Es gibt den einen Technologie getriebenen Brillenglashersteller aus München, und es gibt das gleichnamige Investor geführte Unternehmen.
Die beiden Verantwortlichen für die laut Rodenstock „nächste Evolutionsstufe von B.I.G VISION“ bei der opti 2025: Dr. Dietmar Uttenweiler, Executive Vice President Innovation (links) und Dr. Gregor Esser, Director Research and Development Optics. (Foto: Rodenstock)
Das zu Jahresbeginn vorgestellte biometrische Gleitsichtbrillenglas „B.I.G. EXACT Sensitive“ steht für Rodenstock, so wie auch für Dr. Gregor Esser und Dr. Dietmar Uttenweiler als Verantwortliche für diese laut Rodenstock „nächste Evolutionsstufe von B.I.G VISION“. Zur Erinnerung: das neue Brillenglas berücksichtigt sowohl die Biometrie des Auges als auch die individuelle visuelle Sensitivität des Brillenträgers, der von einem übergangsloseren, dynamischeren Sehen, einem verbesserten Lesefluss sowie einer besseren Orientierung profitieren soll.
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Fünf Jahre habe man an „Millionen von Augen“ geforscht und entwickelt. Hier kamen der Datensatz des Brillenglasherstellers und eine moderne Datenwissenschaft und Künstliche Intelligenz zum Einsatz, um eine Methode zur Bestimmung der individuellen visuellen Sensitivität zu entwickeln. Die Münchener fanden dabei heraus, „dass die Wahrnehmung von Seh-Eindrücken höchst individuell ist und auf Basis biometrischer Messungen mit dem DNEye-Scanner sowie der Angabe des Visus aus einer subjektiven Refraktion ermittelt werden kann. Zur Veranschaulichung entwickelte Rodenstock den „visuellen Sensitivtäts-Index“: Menschen mit einer geringeren visuellen Sensitivität nehmen kleine Veränderungen in der Sehqualität nicht oder nur kaum wahr, während bei Menschen mit einer hohen visuellen Sensitivität selbst kleinste Veränderungen der Sehqualität zu Störungen führen und das übergangslose, dynamische Sehen beeinträchtigen können“.
Nicht die falschen Schlüsse ziehen
Wie das funktioniert, das erklärten Uttenweiler, Executive Vice President Innovation, und Esser, Director Research and Development Optics, eyebizz nach dem offiziellen opti-Pressetermin noch einmal ganz genau. Denn eines scheint sicher: nicht nur dem Fachjournalisten muss die neue Entwicklung gründlich erklärt werden, auch und insbesondere die Fachleute in den Geschäften benötigen etwas Grundwissen über die Funktionsweise der Gläser (und der Augen), damit sie nicht die falschen Schlüsse ziehen und ihre Kundschaft optimal beraten können.
Wichtig laut Esser ist: „Sowohl Brillenträger mit einer hohen visuellen Sensitivität als auch mit einer geringen visuellen Sensitivität profitieren eindeutig von unserer neuesten Entwicklung. Die Berücksichtigung der visuellen Sensitivität stellt ein neues Maß an individualisierten Brillengläsern dar, da das Glasdesign entsprechend dem persönlichen Sensitivitäts-Index angepasst wird.“ So erlebe auch der wenig sensitive Träger eine verbesserte Sehleistung.
Das zugrundeliegende Prinzip scheint auch gar nicht mal so kompliziert. Brillengläser, die für Personen mit hoher visueller Sensitivität optimiert sind, weisen laut Rodenstock kleinere, konzentriertere Aberrationsfelder auf. Sie böten weitaus größere aberrationsfreie Zonen, was für eine störungsfreie Sicht sorge. Die für Personen mit geringer visueller Sensitivität optimierten Gläser hätten dagegen gleichmäßigere Aberrationsfelder; also deutlich weniger periphere Aberrationen und weichere Übergangszonen, die dem Träger ein übergangsloses, dynamisches Sehen ermöglichen sollen.
Trageversuche und Blickverlaufsstudie
Dass das funktioniert, hätten die Trageversuche und eine Blickverlaufsstudie gezeigt. „Die Brillenträger, die an den Studien teilnahmen, bevorzugten die neuen Brillengläser und haben bemerkenswerte Verbesserungen bei mehreren Leistungskennzahlen wahrgenommen“, sagt Uttenweiler, der betont, dass „biometrische Brillengläser einer der wenigen wirklichen Paradigmenwechsel in der Brillenglasindustrie der letzten zwei Jahrzehnte sind“. Welche anderen sieht der Vice President? „Zum Beispiel natürlich die individuellen Brillengläser, die einfach eine ganz andere Art von Brillengläsern sind als die, die zuvor möglich waren. Die Berechnungs- und Fertigungstechnologie, die zur Jahrtausendwende möglich geworden sind, stellen einen gewaltigen Fortschritt dar.“
Biometrische Brillengläser mögen also das Zeug zum Paradigmenwechsel mitbringen, ob sie es in der Praxis aber wirklich schaffen? Derzeit noch ist die „sensitive Variante“ nur als „B.I.G. EXACT“ lieferbar. Das heißt, für die Bestimmung der Sensitivität und damit für die Bestellung ist ein DNEye-Scanner nötig. Es braucht jedoch nicht viel Fantasie, um erahnen zu können, dass Rodenstock zukünftig eine „Norm-Ausführung“ anbieten möchte. Dann wäre es durch Künstliche Intelligenz unterstützt auch möglich, ohne den Scanner auszukommen.
Wer weiß, auf welche Ideen die Entwickler des Brillenglasherstellers noch kommen? Uttenweiler beantwortet die Frage, ob das Brillenglas nunmehr ausgeforscht sei, zwar immerzu sachlich. Aber man sieht es dem Experten dabei wiederholt an, dass er eigentlich wenig Verständnis für eine solche Annahme hat. Passend zum Motto von Rodenstock, dass man nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn sehe, sagt er: „Die Entwicklung bei Brillengläsern ist nie abgeschlossen, es gibt immer wieder neue Ansätze.
/// IR
Küchenblock
Wer mehr zu den neuen biometrischen Brillengläsern aus dem Hause Rodenstock erfahren und Dr. Dietmar Uttenweiler von einer anderen Seite – auch privat – kennenlernen mag, dem empfehlen wir das Video „Küchenblock“ des „INSEYEDER“. Uttenweiler machte im März dieses Jahres bei einem Experiment mit, das die fachliche Augenoptik mit ein bisschen Unterhaltung kombinieren möchte. eyebizz begleitet den INSEYEDER, und Chefredakteur Ingo Rütten moderierte die besagte Show in der Gläsernen Manufaktur von Markus T in Gütersloh gemeinsam mit Gastgeber Markus Temming.
Dr. Dietmar Uttenweiler in der offenen Küche bei Markus T: ein Experiment, das Zuschauern wie Teilnehmenden sichtlich Spaß machte. (Foto: Rodenstock)
Der Executive Vice President Innovation aus München hatte nichts zu verbergen. Weder, welchem Fußball-Bundesligaclub er die Daumen drückt, noch mit welchen Kochkünsten er seine Frau bereits vor der Hochzeit von sich begeisterte. Das stellte Temming in der offenen Küche der Manufaktur auf die Probe, um währenddessen mehr über Uttenweiler und dessen Aufgabe bei Rodenstock zu erfahren.
Ein Blick hinter die Kulissen, der als Aufzeichnung unter inseyeder.de oder über https://bit.ly/inseyeder zu erreichen ist.