Marketing statt Medizin: KI-Augenscreenings unter der Lupe
von Dr. Christoph Haarburger,
Augenvorsorge ist ein zentrales Instrument, um Netzhauterkrankungen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig zu behandeln. Fachgesellschaften wie die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft empfehlen daher Vorsorgeuntersuchungen ab dem 40. Lebensjahr. In der Realität stößt dieses Ideal jedoch auf zwei wesentliche Hindernisse: Zum einen sind die augenärztlichen Kapazitäten so begrenzt, dass eine flächendeckende Umsetzung nicht möglich ist. Zum anderen handelt es sich in Deutschland auch beim Augenarzt um eine Selbstzahler-Leistung, die bis zu über hundert Euro kostet und somit für viele Menschen eine finanzielle Hürde darstellt.
Bild: Ocumeda
In den vergangenen Jahren haben darum immer mehr Augenoptiker begonnen, Netzhautscreenings anzubieten. Dies geschieht entweder im Rahmen telemedizinischer Modelle, bei denen die Aufnahmen der Netzhaut im Geschäft erstellt, aber von Augenärzten aus der Ferne begutachtet werden, oder durch den Einsatz von KI-Systemen, die direkt vor Ort einen Bericht erstellen. Während telemedizinische Lösungen in Ländern wie Schweden oder Norwegen seit Jahren etabliert sind, drängen zunehmend auch KI-Systeme in der DACH-Region auf den Markt. Doch obwohl die Technik faszinierend ist, sind die aktuell in Europa zugelassenen Systeme für ein allgemeines Augenscreening nicht geeignet.
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Das erste große Problem ist die begrenzte diagnostische Bandbreite. Die meisten zugelassenen Systeme erkennen ausschließlich drei Erkrankungen: AMD, Glaukom und DR. Eine Vielzahl weiterer potenziell gefährlicher Befunde – etwa Gefäßverschlüsse, Netzhautablösungen, Makulaödeme, entzündliche Prozesse oder sogar Tumoren – können von den KI-Systemen nicht erkannt werden. Eigene Daten von Ocumeda aus über 200.000 telemedizinischen Untersuchungen in der DACH-Region zeigen, dass 22 Prozent aller Fälle auffällig sind. Bemerkenswert ist, dass circa die Hälfte dieser Auffälligkeiten nicht zu den drei von der KI erfassten Krankheitsbildern gehören.
Trügerischer Eindruck
Wer ein KI-System, das so viele Auffälligkeiten nicht erkennen kann, als „Augen-Check-up“ vermarktet, erweckt einen trügerischen Eindruck und riskiert, dass viele relevante und potentiell gefährliche Befunde schlicht übersehen werden.
Das zweite Problem ist statistischer Natur. In einer überwiegend asymptomatischen Bevölkerung, wie sie etwa bei Screening-Angeboten in Fußgängerzonen oder bei Augenoptikern anzutreffen ist, ist die Prävalenz der Zielerkrankungen sehr niedrig. Für AMD liegt sie je nach Quelle zwischen rund einem und dreieinhalb Prozent. Selbst wenn man eine optimistische Annahme von drei Prozent trifft und die Herstellerangaben der KI-Systeme zu Sensitivität und Spezifität als realistisch unterstellt, ergibt sich ein ernüchterndes Bild: Bei einer Sensitivität von über 90 Prozent und einer Spezifität von knapp 90 Prozent liegt der positive Vorhersagewert (PPV: Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit positivem Testergebnis tatsächlich erkrankt ist) für AMD bei nur rund 20 Prozent. Das bedeutet, dass vier von fünf positiven Befunden falsche Alarme sind. Für Patientinnen und Patienten führt dies zu unnötiger Verunsicherung, für Ärzte zu zusätzlicher Belastung und für das Gesundheitssystem zu einer ineffizienten Nutzung knapper Ressourcen. Erst bei unrealistisch hohen Spezifitätswerten jenseits von 97 Prozent würde der PPV ein akzeptables Niveau erreichen – Werte, die nach aktuellem Stand kein in Europa zugelassenes System erreicht.
Manche Anbieter versuchen, dieses Problem durch eine ärztliche „Validierung“ der KI-Ergebnisse abzufedern. Doch dieser Ansatz löst das Grundproblem nicht. Zwar können Ärzte Fehlalarme bei den drei erfassten Erkrankungen erkennen und korrigieren, doch Pathologien außerhalb dieses engen Spektrums bleiben unentdeckt. Das Screening deckt also weiterhin nur einen Teil relevanter Krankheitsbilder ab und Patienten wiegen sich in falscher Sicherheit.
Dr. Christoph Haarburger ist Mitgründer und CTO bei Ocumeda (Bild: Ocumeda)
Das bedeutet jedoch nicht, dass KI grundsätzlich ungeeignet wäre. Richtig eingesetzt, kann sie einen großen Mehrwert bringen – etwa im gezielten Screening von Risikogruppen. Ein Beispiel ist das Screening auf diabetische Retinopathie bei Menschen mit Diabetes, wo die Prävalenz der Erkrankung bei etwa 25 Prozent liegt. Hier erreichen KI-Systeme einen deutlich höheren positiven Vorhersagewert, was sowohl medizinisch sinnvoll als auch ressourcenschonend ist. Ein anderer denkbarer Ansatz wäre, KI nicht nur auf die Erkennung einzelner Krankheiten zu trainieren, sondern auf die Unterscheidung zwischen unauffälligen und abklärungsbedürftigen Befunden.
Das Fazit ist klar: Für den Einsatz als allgemeiner „Augen-Check-up“ bei einer überwiegend asymptomatischen Population in der Fußgängerzone sind aktuelle KI-Systeme ungeeignet. Sie verursachen sogar Schaden – einerseits am Menschen durch übersehene Erkrankungen, andererseits am Gesundheitssystem durch zu viele Fehlalarme. Das ist keine Frage der Meinung, sondern eine Folge klarer mathematischer und medizinischer Logik.
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Dr. Christoph Haarburger ist Mitgründer und CTO bei Ocumeda. Der Ingenieur und Unternehmer lebt in München und hat zuvor seinen Master-Abschluss in Technischer Informatik und einen Doktortitel in medizinischer KI an der RWTH Aachen erworben. Er ist Autor vieler wissenschaftlicher Publikationen zu medizinischer KI mit Anwendungen in der Radiologie, Pathologie und Ophthalmologie.
Artikel aus der eyebizz 5.2025 (September/Oktober)