Wir alle kennen den Wiederbeschaffungs-Rhythmus bei Brillen, der bei knapp vier Jahren liegt! Je nach Bedarf oder Wunsch kommen die Kunden dann zu Ihnen ins Geschäft, meistens, wenn sie nicht mehr richtig sehen – und manchmal auch, wenn die aktuelle Brille nicht mehr gefällt. Bei manchen modebewussten Trägerinnen und Trägern gehören mehrere Varianten zur Grundausstattung, grundsätzlich aber gilt, dass die „alten“ Fassungen rigoros ausgemustert werden. Besonders Sonnenbrillen ohne Korrektion unterliegen schnelllebigen Modetrends und werden häufig ersetzt oder neu gekauft. Die alten fallen meist in den Dornröschenschlaf oder werden in Schubladen, Schränken und Regalen schnell zu Staubfängern.
Dingue de Lunettes: Ladenfront in der Altstadt von Lyon (Bild: Dingue de Lunettes)
So liegen Millionen oft hochwertiger Brillenfassungen ungenutzt in zahllosen Haushalten vieler Industrieländer. Trotz vielerorts organisierten Sammel- und Spendenaktionen gebrauchter Brillenfassungen zu Gunsten von Entwicklungsländern werden allein in Deutschland nach Angaben des Zentralverbands der Augenoptiker und Optometristen (ZVA) nur drei Prozent aller gebrauchten Brillen aufgearbeitet und wiederverwendet. 97 Prozent landen in der Mülltonne. „Eine enorme Verschwendung”, meint Monica Salvestrin Brogi, Mitbegründerin der italienischen Brillenmarke NAU! „In so einer Brille steckt doch viel Arbeit, Wertigkeit und Liebe zum Detail. Viel zu schade, um sie schon nach wenigen Jahren auszusortieren, in eine Schublade zu verbannen oder gar zu entsorgen, wenn sie noch anderen Personen nutzen und Freude bereiten kann”. Dieser Gedanke war der Auslöser für das Pionierprojekt „NAU! Reloove“.
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Aus Alt macht Neu
Die Gründer der 2005 eingeführten Marke beschlossen, die getragenen NAU! Brillen und Sonnenbrillen ihrer Kunden in den 150 eigenen Geschäften zu sammeln, im Werk auf Wiederverwertbarkeit zu prüfen und nach einer gründlichen Aufarbeitung neues Leben einzuhauchen. Dabei werden die Brillen nicht nur desinfiziert und poliert, sondern es werden auch Schrauben und Nasenpads ausgetauscht, Bügel neu bedruckt, Fassungen angepasst, alte Gläser entfernt und die Brille so für den Einsatz neuer Korrektur- oder Sonnenbrillengläser vorbereitet. Jede Brille ist mit dem Aufdruck R versehen, als pre-loved Symbol und deutliche Unterscheidung von den Neu-Kollektionen. Schließlich gehen die Second-Hand-Modelle im speziell für diese Kategorie eröffneten NAU!Relooved-Store in Mailand wieder über den Ladentisch.
„Es geht uns nicht nur um Nachhaltigkeit und die Reduzierung unseres CO2-Fußabdrucks, sondern auch um die Wertschätzung unserer Arbeit und die Verlängerung des Lebenszyklus der Produkte. Daraus wurde die Idee geboren, der erste Laden für Kreislauf-Brillen, die bei neuen Besitzern wieder zum Lieblingsstück avancieren“, erklärt Salvestrin Brogi. Darüber hinaus investiert das Brillenunternehmen jedes Jahr mindestens zehn Prozent seines Gewinns in Umweltschutzprojekte und beteiligt sich seit 2022 an Initiativen, mit denen die CO2-Emissionen für jede verkaufte Brille kompensiert werden sollen, wie zum Beispiel die Wiederaufforstung von Wäldern in Uganda und Sierra Leone.
Verrückt nach Vintage-Brillen
Einen etwas anderen Weg ging Dan Alcabès, ein französischer Augenoptiker und Optometrist, der von je her eine Vorliebe dafür hatte, gebrauchte Brillen auf Flohmärkten aufzustöbern, um sie in einer improvisierten Kellerwerkstatt zu reparieren und für Freunde und Bekannte in originelle Einzelstücke zu verwandeln. „Ich war schon immer leidenschaftlicher Sucher und Sammler von gebrauchten Brillen. Jede ist ein Unikat und hat ihre ganz persönliche Geschichte. Das macht diese Brillen so einzigartig und faszinierend. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich fündig werde! Häufig sind diese sogar besser verarbeitet als neue, denn früher wurde bei der Fertigung von Brillen noch Wert auf solide Handarbeit gelegt. Das findet man heute immer seltener”, meint Alcabès.
Dan Alcabès, Gründer von Dingue de Lunettes, vor seinem ersten Laden in Paris (Bild: Dingue de Lunettes)
Er verwandelte seine Leidenschaft in ein nachhaltiges Geschäftsmodell und gründete 2011 die Marke Dingue de Lunettes, was auf Deutsch „verrückt nach Brillen“ bedeutet, ein Augenoptiklabel, das sich auf recycelte Second-Hand-Brillen spezialisiert hat. Noch im selben Jahr eröffnete Alcabès seine erste Vintage-Brillen-Boutique im zehnten Arrondissement in Paris. Inzwischen sind bereits zwei weitere Läden in Lyon und Tours hinzugekommen. Sie verfügen über sämtliche modernen Geräte und Instrumente, die ein Augenoptiker und Optometrist für seine tägliche Arbeit benötigt, doch der Einrichtungsstil und die Store-Atmosphäre heben sich deutlich von denen eines normalen Geschäftes ab: Sorgfältig kuratierte Vintage-Möbel, Alltagsgegenstände und Deko-Elemente versetzen die Kundschaft in ein Wohnambiente aus den 50er oder 60er Jahren. Ein antikes Gestell einer Boxspringmatratze dient als origineller Wandhalter für
Brillenfassungen. Ein echter Hingucker!
Der Gründer von Dingue de Lunettes übernimmt mittlerweile auch sogenannte Deadstocks, also liegengebliebene Lager- oder Restbestände von Fassungen aus vergangenen Zeiten, die bei Inventuren oder Umzügen zum Vorschein kommen und mit denen traditionelle Augenoptiker nichts anfangen können. „Eine Brille zu restaurieren ist zwar keine große Kunst, aber die meisten Optiker verfügen weder über die erforderlichen Geräte und Werkzeuge, noch das nötige Know-How dafür.“
Handlungsbedarf beim Brillen- und Optik-Recycling
Überhaupt scheint Frankreich in Sachen Recycling von Abfallprodukten der Augenoptik anderer Länder ein Stück weit voraus zu sein. Für die französische Augenoptikerin und Umweltaktivistin Carole Riehl besteht dringend Handlungsbedarf in Sachen Einsammeln und Wiederverwertung von Optik- und Brillenabfällen.
Die Französin Carol Riehl kämpft für eine funktionierende Kreislauf-Wirtschaft in der Augenoptik (Bild: RecyclOptics)
Daher rief sie in Frankreich die unabhängige und gemeinnützige Organisation RecyclOptics ins Leben, die sich für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft in der Augenoptik einsetzt und die Akteure der Branche für das Thema sensibilisieren und gewinnen will.
RecyclOptics hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Sammeln, Abholen und Recyceln optik- und brillenbasierter Abfälle zu organisieren. „Wir stellen Altbrillen-Sammelboxen bei unseren Mitgliedern auf – hauptsächlich engagierte Optiker und Fachleute aus der Branche – mit dem Ziel, den alten Brillen ein zweites Leben zu schenken“, erklärt Riehl. „Dabei kümmern wir uns nicht nur um das Klassifizieren und Aufarbeiten der Brillen, sondern auch um die Rückgewinnung von Materialien aus beschädigten Brillenfassungen in lokalen Recycling- oder Upcycling-Projekten.“ RecyclOptics wird von der Region Île-de-France und der französischen Agentur für Umwelt- und Energiewende (ADEME) gefördert. So können Sortier-, Verarbeitungs- und Wiederverwendungsprozesse ständig verbessert und optimiert werden.
Typisches Vintage-Ambiente im Geschäft von Dingue de Lunettes in Tours (Bild: Dingue de Lunettes)
Um das Thema Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit in der augenoptischen Industrie voranzutreiben, hat Riehl sogar eine Fachveranstaltung auf die Beine gestellt, den Congrès de l’Optique-Lunetterie Durable (C.O.L.D.). Der Kongress für eine nachhaltige Augenoptik bringt Fachleute aus verschiedenen Bereichen zusammen, darunter Designer, Hersteller, Einzelhändler und Nachhaltigkeits-Experten, die sich zu Themen wie nachhaltige Materialien und Produktionsverfahren, Kreislaufwirtschaft, Transparenz und ethische Lieferketten sowie soziale Verantwortung in der Branche austauschen.
Gleichzeitig dient der Kongress als Plattform zum Austausch von Best Practices und fördert die Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren der Branche. Ziel ist es, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die sowohl unter ökologischen als auch ökonomischen Gesichtspunkten nachhaltig sind. „Echter Wandel kann nur durch eine stärkere Zusammenarbeit und Bewusstseinsänderung aller Beteiligten bewirkt werden“, erklärt die Aktivistin überzeugt. Der Kongress ist jeden ersten Montag im November – dem Monat im Zeichen der Sozial- und Solidarwirtschaft in Frankreich.
Bleibt zu hoffen, dass Initiativen dieser Art auch in anderen Ländern Schule machen und damit Millionen in Schubladen und Schränken verbannte Brillen aus dem Dornröschenschlaf wecken oder in Zukunft sogar vor diesem Schicksal bewahren.
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Artikel aus der eyebizz 5.2025 (September/Oktober)